www.inklusion-als-problem.de
Memorandum - ein Anstoß zum Innehalten -zum UN-Weltkindertag 2015, von
Michael Felten (Köln)
Inklusion, ein riskantes Experiment
I. Die Schule macht schon genug Sorgen.
Viele Schüler in NRW und den
Stadtstaaten lernen zu oberflächlich und erreichen nur unterdurch- schnittliche
Kompetenzniveaus. Bundesweit ist das Problem der "Risikoschüler"
ungelöst (bei 20% der 15-Jährigen überschreiten Mathematik- und Lesekompetenz
nicht das Grundschulniveau). Die Lehrerschaft hingegen hat mit ausufernder
Reformbürokratie zu kämpfen - und vermisst praxisnahe Unterstützung und
Weiterbildung. Vielerorts hat eine systematische Qualitätsentwicklung des
Unterrichts an Regelschulen (d.h. bei moderater Heterogenität) gerade erst
begonnen. Ist da eine forcierte oder gar totale Ausweitung des Diversitätsspektrums
verantwortbar?
II. Bewährte Integration,
zweifelhafte Inklusion
Seit Jahren gibt es gute
Erfahrungen damit, Schüler mit besonderen Beeinträchtigungen integrativ zu unterrichten - allerdings nicht bedingungslos
und nicht zum Nulltarif. So können etwa körper- behinderte Kinder gut am
Regelunterricht teilnehmen - wenn die bauliche und technische Ausstattung
stimmt. Auch könnten Migrantenkinder ohne anfängliche Deutschkenntnisse ein Gymnasium
besuchen - wenn ihr kognitives Potential den Anforderungen dieser Schulform entspricht,
und wenn ihnen dort ein sprachlicher Intensivkurs ermöglicht wird. Nicht
zuletzt ist womöglich manches "lernbehinderte" Kind ohne Not in die
Förderschule verwiesen worden - weil
Problemkompetenz und -ressourcen an der Regelschule fehlten.
Wenn aber zukünftig alle Schüler
zwanghaft gemeinsam beschult würden, unabhängig von Ihrem real existierenden
(durchaus dynamisch verstandenen) Lernvermögen, wird das die Leistungs- und
Sozial- entwicklung vieler einzelner Kinder beeinträchtigen - zumal im derzeit
praktizierten bzw. angestreb- ten Sparmodus ("wohlwollende
Vernachlässigung", BERND AHRBECK). Ein solcher Niveauverlust wäre auch
gesamtgesellschaftlich inakzeptabel.
Schüler helfen einander gerne und
können durchaus voneinander lernen. Aber schnelle Lerner haben auch ein Recht
auf herausfordernden Unterricht. Und Leistungsschwächere brauchen nicht nur Schutz
vor dem ständigen Vergleich mit den Besten, sondern bedürfen auch in besonderem
Maße konstanter pädagogischer Bindung. Förderlehrer, die stundenweise von
Schule zu Schule hetzen ("Reisepädagogik"), können dies nicht
leisten. Mit steigender Inklusionserfahrung wächst denn auch der Elternwunsch
nach Förderschulen.
Empirische Befunde zur
Lernwirksamkeit in inklusiven Settings haben sich als höchst ambivalent erwiesen,
in der Sekundarstufe (Sachkomplexität, Pubertät) fehlen sie weitgehend. Der
Slogan "Vielfalt macht schlau" trifft jedenfalls nur in Grenzen zu:
Am erfolgreichsten lernen Schüler in moderat heterogenen Klassen - bei hoher
Unterrichtsqualität. Dagegen wird zieldifferentes Unterrichten als Regelfall
mit wachsendem Alter überaufwändig und unübersichtlich - und ist nicht zuletzt
rechtlich fragwürdig.
III. Deutschland hat das
Bildungsrecht für alle Kinder längst gesichert.
Die
UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) will allen Menschen mit Behinderung u.a.
ungehinderten Zugang zum allgemeinen Bildungswesen ermöglichen - zu Recht, denn
in vielen Ländern sind behinderte Kinder bislang vom öffentlichen Schulbesuch
ausgeschlossen.
Das deutsche Bildungswesen
hingegen erfüllt die BRK bereits: Die hiesigen Förderschulen sind derjenige
Teil des allgemeinbildenden Schulsystems, der gesellschaftliche Teilhabe durch
spezifische Unterstützung herbeiführen soll; solche besonderen Maßnahmen gelten
laut Konvention aber gerade nicht als Diskriminierung (Art. 5, Abs. 4).
Das deutsche Bildungswesen wäre
gewiss in mancher Hinsicht optimierbar - für eine generelle Schulreform zur
inklusiven Einheitsschule besteht indes aus lernpsychologischer wie gesellschaftlicher
Perspektive keine Notwendigkeit.
IV. So viel
(hochqualitative) Integration wie möglich, so viel (durchlässige) Separation
wie nötig!
Heterogenität ist eine
Anfangsgegebenheit des Schulischen, aber Simultaneität nicht deren Lösung. Auch
im Pädagogischen lässt sich ein Spektrum des Normalen und Bereiche des Besonderen
unterscheiden - und diese Differenz verdient Respekt. Allzu Ungleiches sollte
man weder gleich noch zugleich behandeln. Es gilt, die Goldene Mitte zwischen
menschlich Wünschbarem und schulpädagogisch Machbarem auszuloten. Die Politik
verlange also nicht das Unmögliche, sondern finanziere das Sinnvolle:
Das Förderschulsystem nicht
schwächen oder gar auflösen!
Jeder Schüler mit besonderem
Unterstützungsbedarf muss wohnortnah in geschütztem Rahmen gezielt gefördert
werden können, die elterliche Wahlfreiheit zwischen Regel- und Förderbeschulung
muss erhalten bleiben. Professionelle Förderlehrkräfte müssen weiterhin in
angemessenem Umfang zur Verfügung stehen. Flüchtig inklusionsgeschulte
Regellehrer sind latent überlastet und bilden für Förderkinder ein hohes
Entwicklungsrisiko - und für sich selbst ein gesundheitliches.
Die pädagogische Professionalität
der Regelschullehrer stärken! Je größer die methodische und pädagogische
Kompetenz der Lehrer, desto eher können - bei entsprechenden
Unterstützungsressourcen - auch Schüler mit vorübergehenden Entwicklungsproblemen
an Regelschulen verbleiben und dort angemessen gefördert werden.
V. Keine Denktabus, keine
Maulkörbe!
Jedes Kind soll an dem für es
geeignetsten Ort lernen können - dies kann durchaus (wie weltweit üblich) auch
eine Spezialschule oder -klasse sein. "Gemeinsames Lernen" ist nur
dann sinnvoll, wenn die Förderbedingungen für alle betroffenen Schüler
nachweislich nicht schlechter sind als beim Lernen in verschiedenen Schulformen
oder leistungsdifferenten Lerngruppen. Das Entwicklungswohl von Schülern ist
primär eine Frage von Unterrichtsqualität und Förderressourcen, nicht aber der Schulstruktur.
Schulische Inklusion entpuppt
sich zunehmend als "problemproduzierende Problemlösung" (RAINER DOLLASE).
Darüber brauchen wir mehr öffentliche Debatte, ohne Blockade durch Maulkörbe
oder Denktabus. Kinder mit und ohne Behinderung sind kein Spielball - weder für
Sparfüchse noch für Schulideologen.
Gegenüber irrenden Obrigkeiten
haben Beamte übrigens die Pflicht zur Remonstration. Auch andere betroffene
Bürger könnten etwas tun: mit den Bildungsexperten der Parteien diskutieren, in
Leserbriefen aus der Schulpraxis berichten, eine Petition anstoßen ...
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