Guido Sprügel: Probleme bei der schulischen Inklusion (Jungle
World-Die linke Wochenz Nr. 43, 23. Oktober 2014)
Keine Investition bei
der Inklusion
Nichts hat die Pädagogik der vergangenen Jahrzehnte so
beschäftigt wie die Frage der Inklusion. Dennoch wurde die Inklusion von
behinderten Kindern in den Schulalltag überhastet umgesetzt, zudem mangelt es
an Geld.
Nun hat es ein Politiker offen und ehrlich ausgesprochen
zumindest in Hamburg wird es nicht mehr Geld für die Inklusion behinderter
Kinder in die allgemeinen Schulen geben. So hat es Schulsenator Ties Rabe (SPD)
auf einer Veranstaltung der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW)
am 30. September bekannt gegeben. Er erteilte den Forderungen der Gewerkschaft
nach einer Einstellung von zusätzlichen 550 Sonderpädagogen eine Absage. Das
sei nicht finanzierbar auch nach einer eventuellen Wiederwahl der SPD im
kommenden Jahr nicht. Man muss dem Senator zugutehalten, dass er angesichts des
beginnenden Wahlkampfs keine leeren Versprechungen machte. Anja
Bensinger-Stolze begründete die Forderung der GEW nach mehr Ressourcen wie
folgt: »Die Ausstattung der Inklusion in Hamburg ist völlig unzureichend.
Darunter leiden die Arbeitsbedingungen der Pädagogen und Pädagoginnen und
natürlich auch die Qualität von Unterricht. Eine solche Umsetzung der Inklusion
als Sparmodell lehnt die GEW ab!« Doch kurzfristig etwas an den
Rahmenbedingungen ändern kann die Gewerkschaft nicht. Und so wird die Inklusion
weiter unter sehr widrigen Umständen umgesetzt.
Mehr Sicherheitswesten ja, mehr Inklusion nein. Der
Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) setzt Prioritäten.
In Hamburg entstehen an den weiterführenden Stadtteilschulen
derzeit immer mehr sogenannte temporäre Lerngruppen. Diese Lerngruppen sind
einem Passus im Hamburger Schulgesetz geschuldet, der sie quasi als Notlösung
explizit erlaubt. Bei aller Inklusionseuphorie war den Verfassern des
Gesetzes wohl bewusst, dass es dennoch Probleme geben könnte. So können die
Schulen beispielsweise im Fall einer Unbeschulbarkeit einzelne Schüler in
besonderen Lerngruppen unterbringen. Da Benennungen von Schulklassen, die mit
Bezeichnungen wie »Sonder« oder »Extra« verbunden sind, in Ungnade gefallen
sind, tragen diese Nebenklassen euphemistische Namen wie Brücken- oder
Ankerklassen. Zumindest an der Bezeichnung merkt man nicht, dass sie stark
verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche beherbergen. Den Schulen kann man
die Schuld dafür nicht geben sie müssen
Sorge für alle Beteiligten tragen. An dieser Stelle wird jedoch deutlich, dass
sich bei schlechter Ausstattung Nischen auftun, die keiner wollte und die die
Segregation nicht im Geringsten beseitigen. Man ist dann wieder an einer Stelle
der Entwicklung angelangt, bei der sich vor über 100 Jahren die Hilfsschulen
herausbildeten. Seitdem gab es immer wieder sogenannte Nebenklassen.
Ob Anker-, Brücken- oder Laborklassen sie alle eint der
trennende Aspekt. Streng genommen werden durch diese Sonderklassen die
Sonderschulen durch die Hintertür wieder eingeführt. Verwunderlich ist diese
Entwicklung nicht, denn die Lehrer arbeiten nur wenige Stunden in
Doppelbesetzung mit ausgebildeten Sonderpädagogen. Die meiste Zeit des
Unterrichts sind sie mit den Klassen allein und müssen auch noch den nach den
PISA-Studien gestiegenen Bildungsansprüchen genüge tun. Ein wenig Entlastung
erfahren die Pädagogen vielerorts durch Eingliederungshelfer oder
Schulbegleiter. In Hamburg ist die Anzahl dieser Mitarbeiter in den vergangenen
Jahren um das Acht- bis Neunfache gestiegen. Auch in anderen Bundesländern wird
verstärkt auf diese Maßnahme zurückgegriffen. »Ich betreue einen sehr stark
verhaltensauffälligen Grundschüler an vier Tagen in der Woche. Oft weiß ich
jedoch nicht, was ich mit ihm machen soll, da ich für diese Tätigkeit nicht
ausgebildet bin«, beschreibt Sabine Gilsch ihre Probleme. Die 50jährige
arbeitet für neun Euro in der Stunde an einer Lübecker Grundschule. Wenn es mit
»ihrem Kind« im Unterricht gar nicht mehr funktioniert, geht sie mit ihm vor
die Tür. Der Fall ist exemplarisch, nicht nur in Schleswig-Holstein. An dieser
Stelle zeigt sich, dass viele Bundesländer die Inklusion zum Dumpingpreis
umsetzen möchten. Sie nehmen dabei die Etablierung eines Niedriglohnsektors im
Bildungsbereich billigend in Kauf, bevor sie Erzieher oder Sonderpädagogen
einstellen. In Berlin werden viele Schüler mit schweren
Verhaltens-auffälligkeiten einfach in andere Bundesländer gebracht. »Da findet
man auf einmal Berliner Schüler in Maßnahmen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern
oder sogar in Polen«, sagt Bernd Ahrbeck vom Institut für
Rehabilitationswissenschaften der Berliner Humboldt-Universität. Er lehrt
Verhaltensgestörtenpädagogik und kritisiert die derzeit umgesetzte Inklusion
scharf. Es sei noch völlig unklar, wie man sich eine »inklusive Gesellschaft«
vorzustellen habe. Zumal die gesellschaftliche Realität eindeutig auf
Wettbewerb, Selbstoptimierung und Erfolg angelegt sei.
Die Bundesländer suchen alle ihren eigenen Weg im Bereich
der schulischen Inklusion. Während Bremen möglichst schnell alle
Sondereinrichtungen auflösen will, gehen die Bundesländer Bayern und
Baden-Würtemberg sehr langsam vor. Ahrbeck plädiert ebenfalls für einen
behutsamen Ausbau gemeinsamen Lernens. In seinem Fach gilt er damit einigen als
»Ewiggestriger« und »Konservativer«. In der pädagogischen Wissenschaft ist der
Streit um die Inklusion voll entbrannt. Während Hochschullehrer wie Andreas
Hinz vom Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg und Hans Wocken, der bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008
Lernbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg lehrte, jedwede
Sonderschule als »menschenrechtswidrige Entwürdigung« begreifen und die
Beschreibung eines Förderbedarfs schon als ähnlich diskriminierend empfinden
wie eine »sexistische und rassistische Sprache«, warnen Wissenschaftler wie
Ahrbeck vor einer Überforderung aller Beteiligten und stellen zugleich die
»Nivellierung von Behinderung« grundsätzlich in Frage. Denn allein durch den
guten Willen geht eine Behinderung platt gesprochen nicht weg. Und Kinder
mit Behinderungen brauchen zusätzliche Unterstützung, damit gemeinsames Lernen
funktionieren kann. Viele Aspekte der Diskussion erscheinen im Vergleich mit
dem Ausland als typisch deutsch. In kaum einem Land wird die Debatte ähnlich
kontrovers und dogmatisch geführt. Sowohl die USA als auch die für ihre
Inklusionspolitik gelobten skandinavischen Länder machen keinen Hehl aus dem
Vorhandensein von Behinderung. Über zusätzliche Förderung wird unverkrampft
entschieden. Hierzulande heißt es oft: entweder ganz oder gar nicht. Manchmal
führt jedoch der Mittelweg zum Erfolg.
Wenn sich die Bildungspolitik in Deutschland an dieser
Stelle nicht darauf besinnt, dass Inklusion Zeit, Raum und Geld braucht, wird
es in Zukunft wohl noch viele Brandbriefe geben, wie sie vorige Woche die
Schule Am Heidberg im Hamburger Stadtteil Langenhorn veröffentlicht hat. Eltern
und Lehrer warnen darin vor einer Überlastung. »Aufgrund der hohen Zahl
verhaltensauffälliger Schüler ist ein halbwegs normaler Unterrichtsalltag in
vielen Klassen nur möglich, weil unsere engagierten Kollegen über ihre
Belastungsgrenzen hinaus (...) für das Gelingen der Inklusion (...) kämpfen«,
heißt es in dem Brief. Die Antwort der Schulbehörde fiel lapidar aus. »Wir
haben die Stadtteilschulen schon jetzt massiv bessergestellt«, sagte ihr
Sprecher, Peter Albrecht. »Diese neue Schulform muss sich entwickeln. Dann
werden auch wieder mehr leistungsstarke Schüler angemeldet«, so Albrecht.
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