Inklusionsdebatte: Eine unglaubliche Gleichmacherei (Frankfurter Allgemeine, 4 nov. 2014)
Warum werden Wesensmerkmale wie Behinderung, Begabung oder
sexuelle Identität wegdiskutiert? Das Neueste aus dem Paradiesgärtlein der
Inklusion.
21.07.2014, von Christian Geyer
Aufstieg einer Heilsidee: die vollständige Inklusion ist
bereit zur Ignoranz jedes empirischen Unterschieds
Die Debatte über Inklusion sei in eine Schieflage geraten,
erklärte kürzlich die Berliner Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendiger auf
Spiegel online. Schief, so die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin
für Sozialforschung, sei die Wahrnehmung, dass Inklusion praktisch nicht
funktionieren könne. Schief sei, versteht man richtig, überhaupt die Kritik an
einem gesellschaftspolitischen Projekt, das sich doch eigentlich von selbst
verstehe: die Normalisierung der Vielfalt als politische Querschnittsaufgabe.
Dabei geht es um die sukzessive Herstellung einer inklusiven Gesellschaft, weit
über den Schul- und Bildungsbereich hinaus.
Autor: Christian
Geyer-Hindemith
Insbesondere bei Inklusionsfeldern wie sexueller Identität
oder Behinderung liegen die Nerven blank. Im Blick auf die Einwände, die gegen
die umstandslose Übersetzung von sozialer Gerechtigkeit in den politischen
Kampfbegriff der Gleichstellung vorgebracht werden, versteht Frau Allmendinger
die Welt nicht mehr. Sie fragt: Warum ist die Inklusion in Deutschland noch
immer so umstritten? Noch immer? Immer mehr! Immer mehr zeigt sich der
utopische, weltfremde Charakter einer Heilsidee, die über keinen positiven
Begriff von Ungleichheit verfügt. Als ergäbe sich aus der Gleichheit vor dem
Gesetz (oder vor Gott) die Notwendigkeit, jedweden empirischen Unterschied zu
ignorieren.
Alles wird Zuschreibung
Nicht jeder kann alles. Und nicht jeder kann das, was er
kann, genauso gut wie jemand anderer, der es besser kann. Die Pointe der
Inklusionssemantik liegt aber darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu
deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. So wird unter der regulativen
Idee der Vielfalt (Schule der Vielfalt, diversity management in
Unternehmen) ein egalitäres Anspruchsdenken installiert, das so weit geht,
Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen. Geschlecht,
Behinderung, Alter oder Intelligenz gehören dann gar nicht erwähnt, sie
erscheinen als bloße Zuschreibungen im Auge des Betrachters.
Die Analyse kategorialer Unterschiede wird als
Essentialismus geschmäht, dem ein naiver Wesensbegriff zugrunde liege. Die
propagierte Dekategorisierung (alles ist Zuschreibung) vollzieht sich aber
zunehmend auf dem Rücken der Betroffenen. Frau Allmendinger beispielsweise
macht unfreiwillig die diskriminierenden Folgen für die Behinderten sichtbar,
ja, befördert sie selbst. So kritisiert die Arbeitsmarktforscherin, dass viele
Bundesländer Inklusion fördern wollen, ihr Förderschulsystem aber unangetastet
lassen. Sie fordert, Förderschulen konsequent zu schließen und lässt damit
die Katze aus dem Sack.
Diskriminierung durch Ausblenden
Inwiefern? Die Antwort lautet: Wenn schwer und mehrfach
Behinderte als solche nicht mehr bezeichnet werden dürfen, dann fallen sie über
kurz oder lang auch als Träger eines besonderen Förderbedarfs aus. Dann kann
man Sonder- schulen schließen, ohne zu wissen, wie diese ihrer speziellen
Betreuung beraubten Kinder und Jugendlichen auf inklusiven Schulen
zurechtkommen sollen.
Denn das sind Schulen, die ohne klare Perspektiven für die
finanzielle und personelle Ausstattung derzeit in der Regel Provisorien nach
dem Prinzip Daumendrücken darstellen. Vergleichsdaten zur Inklusion aus dem
Ausland beziehen sich bei näherem Hinsehen auf andere Förderkriterien, werden
aber hierzulande propagandistisch ausgeschlachtet.
Heute steht man vor dem Paradox, dass die begriffliche
Gleichstellung der Unterschiede ihr Unsichtbarwerden recht eigentlich erst
die lebensweltliche Diskriminierung schafft, die man doch verhindern will. Man
kann im Interesse der Betroffenen nur davor warnen, die unterschiedlichen
Bedürfnisse so weit zu nivellieren, dass sie am Ende nicht mehr geltend gemacht
werden können.
Aberwitzige Umfragen
Wer im Zuge einer überdrehten Gender-Ideologie das
Muttersein für ein Zuschreibungsmerkmal hält, das der berufstätigen Frau nur
äußerlich ist (wie immer man hierzu den Gegenbegriff fassen möchte), der
entlastet den Arbeitgeber im Zweifel von dem Druck, auf die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie spezifische, über den rechtlichen Rahmen hinausgehende
Rücksichten nehmen zu sollen.
Wer umgekehrt Gender-Fragen derart essentialisiert, dass
eine allgegenwärtige sexuelle Diskriminierung angenommen wird, schadet seinem
Anliegen erkennbar mehr, als ihm zu nutzen wie in der Online-Umfrage, die das
baden-württembergische Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie,
Frauen und Senioren unlängst zur sexuellen Diskriminierung veranstaltet hat.
Dabei wurden etwa trans- oder intersexuell orientierte Menschen gefragt, ob sie
einmal(!) oder öfter in den letzten fünf(!) Jahren eine
Diskriminierungserfahrung gemacht haben.
Das Ergebnis der Befragung war erwartbar niederschmetternd:
In Deutschland wird gendermäßig diskriminiert, was das Zeug hält. Was Wunder,
da doch das Diskriminierungskriterium schon als erfüllt gilt, wenn alle fünf
Jahre eine blöde Bemerkung fällt, ein schiefer Blick ins Auge springt! Die
künstliche Aufregung, die mit solchen aberwitzigen Umfragen entfacht wird,
nennt man wohl Inklusion auf Biegen und Brechen. Stimmungsmache. Auch hier wird
Vielfalt im Grunde gegen die Interessen der Betroffenen propagiert, die sich
nun dem Verdacht einer Überempfindlichkeit bis hin zum Wirklichkeitsverlust
ausgesetzt sehen.
Gefährliche Gemeinschaftsideologie
Das tut der Erlösungsstrategie der Inklusion aber keinen
Abbruch. In ihrem Zentrum steht die Verabsolutierung des Prinzips der sozialen
Partizipation. Es stellt alle anderen Bedürfnisse der Betroffenen in den
Schatten. Gemeinschaft ist Trumpf: Alle sollen sich überall zugehörig fühlen
können.
Das ist die Gegenthese zur ausdifferenzierten Gesellschaft,
ein sozialer Radikalismus, vor dem schon der Anthropologe Helmuth Plessner in
seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft gewarnt hat. Natürlich soll niemand
wegen seiner geschlechtlichen Identität diskriminiert werden dürfen. Doch das
begründet umgekehrt noch keine Verpflichtung, alle möglichen sexuellen
Gemeinschaftsmodelle am Ehebegriff partizipieren zu lassen.
Die Illusion der Vielfalt liegt ja darin, alle
Ungleichheiten für unwirksam und unwichtig zu halten, haben sie sich erst
einmal zur Vielfalt gerundet. Aber auch sexuelle Inklusion hat zwischen
Deskription und Normativität von Vielfalt zu unterscheiden, sollen nicht
legitime Fragen wie solche nach der Sicherung des Kindeswohls als unerheblich
abgetan werden. Daher auch die Gefährlichkeit von Frau Allmendingers Appell zur
Schließung der Sonderschulen. Um einer Gemeinschaftsideologie willen wird die
besondere Förderung von besonders zu Fördernden fahrlässig aufs Spiel gesetzt.
Irgendwo ist jeder ausgeschlossen
Zu Recht macht der Sonderpädagoge Otto Speck darauf
aufmerksam, dass Vielfalt an sich noch kein Wertbegriff sei: Dem Prinzip der
Gleichheit, das einer Pädagogik der Vielfalt zugrunde liegt, entsprechen zu
wollen (,alle Kinder haben gleiche Rechte), heißt noch nicht, dass alle
Ungleichheiten unwirksam und unwichtig werden, wenn Vielfalt erzeugt wird.
Nicht jede Vielfalt lässt sich in erfolgreicheres Lernen
umsetzen. Die Vielfalt der schwer Verhaltensgestörten, die in unseren Schulen
Einzug hält, bedeutet immer auch: Hier wird vielfältig ein Unterricht gestört,
der den Lernzielen noch nicht zugunsten einer bloßen Schülerverwahrung
abgeschworen hat. Eine krass überforderte Lehrerschaft soll es ausbaden.
Wie man es auch dreht und wendet: Inklusion ist ein
relationaler Begriff, den man nicht den ideologischen Verfechtern einer
Totalinklusion überlassen darf. Der Einzelne steht immer in einem mehrfachen Spannungsverhältnis
zwischen Inklusion und Exklusion. Das hat damit zu tun, dass er stets in ein
bestimmtes Teilsystem einbezogen und zugleich aus anderen Teilsystemen
ausgeschlossen ist.
Ein behindertes Kind, so Otto Speck, kann in seiner
Teil-Lebenswelt einer Sonder- oder Förderschule sich durchaus inkludiert
fühlen und doch zugleich von einem externen Bezugspunkt aus als exkludiert
betrachtet werden. Dies betrifft jedoch alle, nicht nur behinderte Kinder.
Nicht jedes Kind kann an Hochleistungssportkursen und Musikklassen teilnehmen;
Kategorien wie Begabung und körperliche Disposition können nicht einfach
getilgt werden. Die Frage ist doch: Warum und wie sollte man solche Ungleichheiten
kompensieren müssen? In welchem Wolkenkuckucksheim fühlt sich keiner mehr durch
irgendwen und irgendwas zurückgesetzt?
Die inklusive Gesellschaft, diese bewusst unscharf gehaltene
politische Leitidee, ist eine große Augenwischerei. Sie hantiert mit Erwartungen,
die man seinen eigenen Kindern nicht früh genug ausreden kann. Vielfalt
bedeutet, das Individuelle zuzulassen, statt es per Etikettenschwindel
abzuschaffen. Was inklusive Dogmatiker wie Frau Allmendinger nicht sehen
wollen, sind die Grenzen der Gemeinschaft: Wünschen hilft nicht immer weiter.
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