www.rhetorik.ch aktuell: (26. Jul, 2014)
Kritik an
alternativen Lernformen (Neo-manie)
Roland Reichenbach,
Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Uni Zürich. meint in
einem NZZ Artikel "Leider gibt es
an den Schulen eine Neo-Manie":
Aktuell Schule: Selbstmanagement
Eltern und Lehrer haben Vorbehalte gegenüber alternativen
Lernformen wie das selbstorganisierte, das integrierte oder das
altersdurchmischte Lernen. An Vorwürfen an der Innovationsrhetorik mangelt es
nicht: "Kinder werden überfordert", "Der konstante Lärm
behindert das Lernen", "Der Lehrer ist im Hintergrund",
"Schwächere Kinder kommen unter die Räder". Es ist ein Irrtum zu
glauben, alles was neu ist, auch wirklich gut. Die Stärken des herkömmlichen
Unterrichtes werden kleingeredet.
Die beiden Themen, selbstorganisiertes
Lernen und altersdurchmischte Schulklassen, sind zu unterscheiden, auch
wenn sie oft kombiniert werden. Im Hintergrund des selbstorganisierten Lernens
steht das Bildungsziel der Selbstregulation. Diese Vokabel hat momentan eine
hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Die pädagogische Frage ist aber, ob, wann und
in Bezug auf welche Inhalte die Schüler und Schülerinnen fähig sind, mehr oder
weniger selbstbestimmt und selbstkontrolliert zu lernen. Die Realität des
Lernens mag eine ganz andere sein, als der verführende Begriff suggeriert.
Gerade mittelstarke und vor allem leistungsschwache Kinder brauchen mehr
Führung, Unterstützung und Kontrolle durch die Lehrperson - ihnen könnte ein
falsch verstandenes didaktisches Konzept besonders schaden, während die Starken
in praktisch jeder pädagogischen Welt gute Leistungen zeigen.
Sie sagen "könnte schaden" - gibt es dafür
Belege?:
Ja. Offene Lernformen haben zwar überall einen
sehr guten Ruf, aber in empirischen Studien schneiden sie meist höchst
ambivalent ab. Gerade dass bei schwächeren Schülern die Leistung sinkt,
wenn man ihnen zu viel zumutet, ist gut belegt. So hat der neuseeländische
Bildungsforscher John Hattie festgestellt, dass der Lehrer für den Lernerfolg
zentral ist - wobei der Erfolg am grössten ist, wenn er den Unterricht
möglichst lenkt und strukturiert. Die Studie hat im Bildungsbetrieb viele Leute
verärgert. Denn sie sagt genau das Gegenteil von dem, was heute propagiert
wird.
... Der Lehrer spielt
im Fall des selbstorganisierten Lernens nur noch eine (Neben-)Rolle als
"Coach". Kommt das gut?
Dahinter steckt die Ansicht,
dass alles, was der Mensch selber tut, gut ist. Und dass alles, was von aussen
kommt, schlecht ist. Da schimmert die alte Angst vor der Macht des Lehrers
durch, die in den siebziger Jahren zu faktischen Berufsverboten für linke
Lehrer führte. Heute spricht niemand mehr von "Indoktrinierung", aber
es ist, als ob die Lehrperson didaktisch überflüssig gemacht werden soll. Dabei
wissen alle, dass sie wichtig ist. Nicht nur jeder, der ernsthaft über seine
eigene Schulkarriere nachdenkt, sondern auch die empirischen Bildungsforscher
wissen es - oder besser gesagt, sie könnten es wissen, sofern sie bereit wären,
dieses biedere Element der schulischen Bildung zu akzeptieren.
Wäre in Zeiten, in denen jeder mit seinem Handy beschäftigt
ist, nicht mehr gemeinsamer Unterricht gefragt, unter Anleitung eines
Klassenlehrers?
Der meiste Unterricht ist auch heute
"lehrerzentriert", was für mich übrigens kein Schimpfwort ist.
Klassenlehrer sind besonders bedeutsam. Was kann es Besseres für ein Schulkind
geben als eine Lehrperson, die dem Kind drei Dinge zeigt: Erstens, dass das,
was gelernt werden soll, wichtig ist. Zweitens, dass der Schüler diesen Inhalt
lernen kann. Drittens, dass der Lehrer das Kind dabei unterstützt. Das sind die
Elementarien. Der Rest sind eher Oberflächenphänomene, über die viel sinnlos
gestritten wird.
(...) Dennoch sind neue Lernformen im Trend,
gerade an den Pädagogischen Hochschulen. Wie gross ist der moralische Druck auf
die Schulen, diesem Trend zu folgen?
Es gibt meines
Erachtens verschiedene pädagogische Gottesdienste. Momentan ist typisch, dass
das Nicht-Typische besonders hohe Anerkennung bewirkt. Dafür wird der
herkömmliche Unterricht mit moralisierenden Argumenten eher schlechtgeredet.
Das halte ich nicht für begrüssenswert. Die Stärken "herkömmlichen"
Unterrichts gilt es ebenso anzuerkennen. Es ist bedenklich, wenn die Schule der
Innovationsrhetorik auf den Leim geht. Erneuerungen sind, wenn überhaupt, nur
langsam umzusetzen. Die Trägheit des Systems ist auch ein Garant für
Verlässlichkeit und Stabilität, nicht einfach bloss Indiz mangelnder
Anpassungsbereitschaft. Es gibt auch in der Schule eine "Neo-Manie",
die abzulehnen ist. Es gibt Erneuerungen, die grossartig sind, dies aber eher
einmal im Jahrhundert als einmal pro Monat - etwa die Erkenntnis, dass das Kind
Bedürfnisse hat, die man ernst nehmen sollte, statt diese zu bekämpfen.
Heute experimentieren
die Volksschulen mit individualisierten Lernformen, um der zunehmenden
Heterogenität im Klassenzimmer zu begegnen. Wie müsste die Schule Ihrer Meinung
nach mit diesem Problem umgehen?
Heterogenität ist ein soziales Faktum, Homogenität eine
Illusion. Die Unterschiede zwischen den Menschen können das Unterrichten - aus
unterschiedlichen Gründen - extrem erschweren. Zu behaupten, dass diese
Probleme mit individualisiertem Unterricht alle gelöst werden können, halte ich
für blauäugig. Die Debatte über die
Inklusion lernschwacher Schüler zeugt von dieser Manie der politischen
Korrektheit. Wer die Schwierigkeiten, Befürchtungen und Hoffnungen von Eltern,
Lehrpersonen und Schülern nicht ernst nimmt und es einfach besser weiss, was
für die Schule richtig und gut ist, wird in diesem Land meistens früher oder
später jäh gebremst. Selbstregulation ist also nicht nur eine Chimäre.
Gemäss herrschender
Lehrmeinung ist heute nicht primär reines Wissen gefragt. Im Zentrum stehen Kompetenzen wie Selbständigkeit und soziales
Handeln. Teilen Sie diese Einschätzung?
Da niemand etwas
gegen Kompetenzen haben kann, handelt es sich auch hier um einen Gottesdienst,
um ewig wiederholte, kaum analysierte oder kritisch reflektierte Vokabeln,
bildungspolitische und -praktische Mantras. Natürlich sind Kompetenzen wichtig,
und natürlich müssen sie gefördert werden. Doch sämtliche schulischen
Lerninhalte nur noch durch die Kompetenz-Perspektive zu betrachten, ist so
unnötig wie ärgerlich. Richtig ist, dass es Wissen gibt, das nicht unmittelbar
"anwendbar" und handlungswirksam ist. Wer das allerdings für
problematisch hält, sollte besser nicht im Bereich der Schule wirken.
Aehnliche Bestrebungen wie in der Schule gibt es auch im
Management und an Hochschulen. Es kann nicht alles selbst reguliert werden. An
einer namhaften Universität werden die Dozenten angehalten, die Studierenden einen
Auftrag zu geben, damit sie selbst den Stoff erarbeiten können. Der Professor
steht Fragen zur Verfügung und ist gleichsam Coach oder Moderator. Das kann zu
Faulheit verführen.
Das Zauberwort Selbstregulation wird oft vergoldet
dargestellt. Sie erfordert hohe Selbstmotivation der Studenten. Im Management
kursiert der Begriff: "Veränderungsmanagement". Dabei wird
ausgeklammert, dass es nicht nur um Veränderung gehen kann. Denn schlechter
werden ist auch eine Veränderung. Wenn etwas verändert wird muss es zwingend zu
einer Verbesserung führen. Innovationsrhetorikern müssen das mit Resultaten
zeigen. Die Bemühungen bei unserer Volksschule in Richtung selbstorganisierte
Lernen missachtet die Erkenntnis, dass die Lehrperson bei den Lernprozessen
keine Nebenrolle, sondern eine zentrale Rolle spielt. Erziehungswissenschafter
Reichenbach bringt es auf den Punkt: "Klassenlehrer sind besonders
bedeutsam. Was kann es Besseres für ein Schulkind geben als eine Lehrperson,
die dem Kind drei Dinge zeigt: Erstens, dass das, was gelernt werden soll,
wichtig ist. Zweitens, dass der Schüler diesen Inhalt lernen kann. Drittens,
dass der Lehrer das Kind dabei unterstützt. Das sind die Elementarien!"
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