Dietzenbach - Was in Dietzenbach der Ausscheller, war in Neustadtgödens, einem Ortsteil von Sande in Friesland, der Ausrufer. Ansonsten scheinen sie sich in nichts unterschieden zu haben, wie auch die beiden Bronzeskulpturen der Gemeinden vermuten lassen. Von Nina Beck
Die Dietzenbacher Figur.
Doch nicht nur die Historie ähnelt sich, auch in Neustadtgödens gibt es heute einen „realen“ Ausrufer, ein Pendant zu Herbert „Seppel“ Lehr. Dessen friesischer Kollege heißt Hinrich Janßen und ist schon seit mehr als zehn Jahren als Ausrufer aktiv, erweckt auf seine Weise ein Stück Ortsgeschichte zum Leben.
Keine Frage, als Ausrufer ist man bestens informiert. Und man kommt viel rum. Früher natürlich recht begrenzt, heute im ganzen Land und über die Landesgrenzen hinaus. So hat Janßen bereits an Europa- und sogar an Weltmeisterschaften der Ausrufer/Ausscheller teilgenommen, wie sein Sohn Sebastian von der Gemeinde Sande erzählt. In maximal 300 Worten galt es da, zunächst einmal in Ausrufer-Manier die Heimatgemeinde vorzustellen und dann zu einem vorgegebenen Thema zu deklamieren. Was auf internationaler Ebene längst praktiziert wird – auf nationaler hinkt man in dieser Hinsicht noch hinterher. Das möchte Janßen, möchte auch die friesische Gemeinde Sand nun ändern. „Bekanntmachung, Bekanntmachung,...! Hört alle her!“ lautet deshalb ein Aufruf an Ausscheller/Ausrufer der Republik, zum ersten Ausrufertreffen in Deutschland vom 18. bis 21. Juni zu kommen. Ziel ist es, möglichst viele Vertreter ihrer „Zunft“ einmal zusammenzubringen, Kontakte zu knüpfen und Erfahrungswerte auszutauschen. Auch „Seppel“ Lehr ist dazu eingeladen – und hat sein Kommen bereits zugesagt, wie er erzählt. Wie aber ist nun Ausrufer Janßen auf Ausscheller Lehr gekommen?„Er hat eifrig im Internet recherchiert“, erzählt sein Sohn Sebastian. Von der Nordseeküste bis Thüringen habe man 20 Männer ausfindig gemacht, die wie Lehr beispielsweise zu Stadtrundgängen oder anderen Anlässen in diese historische Rolle schlüpfen. Von den eingeladenen Ausrufern haben sich aktuell bereits acht fest angemeldet, erläutert Janßen Junior.
Auf das Treffen freut sich „Seppel“ Lehr schon. Im Gegensatz zu seinem friesischen Kollegen ist er noch relativ jung im „Amt“: Die ersten Altstadtrundgänge bot er Anfang 2007 an, nachdem im September zuvor die von Joachim Kreutz geschaffene Bronze-Figur an der Darmstädter Straße aufgestellt worden war – ein Denkmal für den Dietzenbacher Ausscheller. Doch wie war das einst?
Alle Fuhrwerke standen schlagartig still, die Gespräche verstummten, wenn der Ausscheller läutete und nach einem „Achtung, Achtung! Folgendes wird bekannt gegeben...“Neuigkeiten und amtliche Bekanntmachungen der Bürgermeisterei ausrief. Das konnte zum Beispiel eine Aufforderung sein, die Schweine wegen der Kälte erst eine Stunde später als sonst ins Freie zu lassen. Aber es kam durchaus auch vor, dass einfach nur verkündet wurde, beim Gemüsehändler Guha gebe es gerade frisches Gemüse, wie sich alteingesessene Dietzenbacher bei einem Erzählcafé 2005 erinnerten. Im Schnitt zog der Ausscheller einmal in der Woche durch das Dorf, eine Respektsperson, auch ohne Uniform. Lukas Altmannsberger soll 1842 der erste Dietzen bacher in dieser Funktion gewesen sein. Bis Mitte der 1950er Jahre war der Ausscheller in den Altstadtgassen unterwegs.
Größerer Ort mit kleinerer Glock
Dietzenbach/Neustadtgödens - (hl) Was macht der Ausscheller auf Norderney? Und was in einem kleinen, friesischen Örtchen namens Neustadtgödens? Klar, Urlaub, wird sich manch einer jetzt denken. Das mag zu einem gewissen Teil zwar auch stimmen, griffe dann aber doch zu kurz.
„Seppel“ Lehr beim ersten bunde Deutschen Ausschellertreffen.
Denn Herbert „Seppel“ Lehr war gewissermaßen in offizieller Mission nach Friesland aufgebrochen: Der Ausrufer von Neustadtgödens, Hinrich Janßen, hatte zum deutschlandweit ersten Ausrufertreffen geladen. Und etliche Kollegen waren dem Aufruf erwartungsfroh gefolgt, kamen aus Leipzig, Cuxhaven oder Jever, aus dem belgischen Gent und von Norderney – und eben aus Dietzenbach.
„Das liegt zwischen Frankfurt und Darmstadt“, ließ der „Norderneyer Morgen“ seine Leser wissen, „und das hört man dem Ausrufer auch an.“ Die Zeitung hatte über den Vorabbesuch Lehrs bei seinem Ausruferkollegen Bernd Krüger auf Norderney berichtet und sich ein wenig Lokalpatriotismus angesichts des hessisch babbelnden Gastes nicht verkneifen können: „Dort heißt er Ausscheller“, heißt es in dem Artikel, „und führt Gäste durch den Ort, der zwar größer ist als Norderney, dafür hat er aber eine Glocke, die höchstens halb so groß ist wie die des hiesigen Aus schellers.“
Lehr hatte Krüger einige Urlaubstage vor dem Ausrufertreffen, zu dem beide eingeladen waren, auf der Insel ausfindig gemacht. Flugs verabredeten sich die beiden zu einem gemeinsamen Rundgang: Krüger mit Fischerhemd und roter Mütze, Lehr mit blauer Landmannkappe und Kittel. Und jeder natürlich mit seiner Glocke. Eine Trainingseinheit, gewissermaßen. Offenbar hat es Seppel Lehr dort schnell zu einiger Bekanntheit gebracht, wurde er doch schon auf der Straße angesprochen: „Ach, da ist ja der Ausscheller.“
Ausscheller stellten Heimatgemeinden vor
Beste Voraussetzungen also für das Treffen in Neustadtgödens, wo Krüger und Lehr auf ihre Kollegen trafen. Janßen zufolge sind derzeit etwa 20 Ausscheller in Deutschland aktiv, knapp die Hälfte davon hatte den Weg nach Friesland auf sich genommen. Das Örtchen war früher von Mennoniten bewohnt, hat Lehr erfahren. Rund 1500 Einwohner leben hier, ein Großteil davon, schätzt Lehr, war beim ersten Ausrufertreffen anwesend. Im Anschluss an die Begrüßung durch den Bürgermeister, dem Lehr als Geschenk der Stadt Dietzenbach die Dietzenbacher Chronik überreichte, bekamen alle Ausrufer Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen. So konnten die Zuhörer einiges über die jeweilige Stadt und Region erfahren, und sich von den verschiedensten Dialekten – auch dem Hessischen – unterhalten lassen.
Seppel Lehr babbelte, wie ihm de Schnabbel gewachse is und berichtete auch über hessische Bräuche. Nach einem Rundgang durch die denkmalgeschützte Altstadt, vorbei an dem (unbefleckten) Pendant der Dietzenbacher Bronze-Skulptur, des Neustadtgödenser Ausschellers (Foto), fuhr die standesgemäß uniformierte Gesellschaft zur Mittsommernacht nach Sande. Dort, auf der Freiluftbühne des Friesischen Rundfunks, hatte jeder Ausscheller Gelegenheit, seine Heimatgemeinde und Region vorzustellen. Untergebracht waren alle Ausrufer und deren Begleitung privat. Man sei bestens verwöhnt worden, berichtet Lehr.
Mit einem opulenten Frühstück am nächsten Tag und dem Austausch von Mitbringseln und Geschenken, um hessisch zu üben – so hielt auch Ratte Ludwig in „Die spinnen im Römer“ Einzug in Friesland – gingen harmonische Tage zu Ende. Man dürfe gespannt sein, wie es weiter geht, so Lehr. Vielleicht war dies der Auftakt zur Gründung einer deutschen Ausrufer-/Ausscheller-Gilde, oder der Anstoß für weitere Kollegen, an einem Folgetreffen teilzunehmen. Die Gründungsmitglieder jedenfalls waren begeistert: „Wir sind als Fremde gekommen und gehen als Freunde!“, hieß es. -----------------------------------------
Ausrufertreffen in Sande und Neustadtgödens
Bilder: Oliver Braun
Zum ersten Mal trafen sich Ausrufer aus Leipzig, Dietzenbach, Cuxhaven, Jever, Neustadtgödens, Norderney und Gent in Belgien zum ersten Ausrufertreffen Deutschlands in Neustadtgödens und Sande. Nach einen ersten Kennenlernen und einer Rundfahrt durch das Jeverland stellten die Ausrufer bei Auftritten in Jever, Neustadtgödens und Sande in ihren bunten historischen Kostümen ihre Heimatregionen vor. Die Ausrufer oder auch Ausscheller sind als touristische Attraktionen und Stadtführer im Einsatz. Organisiert hatten das Treffen Neustadtgödens’ Ausrufer Hinrich Janßen und sein Eskort Claas Corneles Cloppenburgh alias Jürgen Hunger. Dem ersten Treffen sollen weitere folgen.
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