Rechtsanspruch auf
Inklusion: Breite Verunsicherung vor dem Start (General-Anzeiger)
Von unserem Korrespondenten Wilfried Goebels (19 augustus 2014)
DÜSSELDORF. Eine gute
Woche vor Schuljahresbeginn wächst in NRW die Unsicherheit bei Lehrern, Eltern
und Schülern. Erstmals gilt dann nämlich der Rechtsanspruch auf Inklusion für
behinderte Schüler in den Klassen 1 und 5.
"Die Schulen fühlen sich schlecht vorbereitet",
klagt der Chef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann. Dagegen
bleibt Schulministerin Sylvia Löhrmann zuversichtlich, dass der Reformstart ins
Ungewisse nach der Sommerpause klappt. Ein Hintertürchen hält sich Löhrmann
vorsorglich offen: NRW will notfalls
nachbessern, falls das gemeinsame Lernen der Schüler hakt.
Schon heute sitzt jeder dritte Schüler mit Förderbedarf mit
Nichtbehinderten in einer Klasse. Das Schulministerium erwartet daher auch
keinen Ansturm auf die Regelschulen und schätzt, dass nach der Sommerpause
weniger als 10 000 Förderschüler zur Regelschule wechseln. 2014 stehen
zusätzlich rund 1000 Lehrer für das gemeinsame Lernen bereit. Bis zum Schuljahr
2017/18 sollen schrittweise 3200 neue Lehrerstellen geschaffen werden. Unter dem Strich investiert das Land eine
Milliarde Euro in die Inklusion.
CDU-Schulexperte
Klaus Kaiser warnt trotz des Kraftakts vor einem "verantwortungslosen
Experiment". Behinderte Schüler würden in kaum vorbereitete
Allgemeinschulen gesteckt mit der Folge, dass Lehrer, behinderte und nicht
behinderte Schüler überfordert würden. Nicht wenige Eltern bezweifeln, dass die
speziell nötige Förderung von Förderschülern an Regelschulen gelinge. Andere
halten das gemeinsame Lernen für eine Fiktion, wenn in einer Klasse
nebeneinander in zwei Geschwindigkeiten unterrichtet wird. Kaiser erwartet
einen kräftigen Sog zur Privatschule, weil Eltern die Lehrqualität an
öffentlichen Schulen zusätzlich gefährdet sähen. Schon heute landen NRW-Schüler
in Pisa-Lernstudien fast routinemäßig auf hinteren Plätzen.
Weil viele der 700 Förderschulen die Mindestgröße von 144
Schülern nicht erreichen, müssen Eltern, die ihre Kinder nicht zur Regelschule
schicken wollen, bald weite Wege in Kauf nehmen. Für VBE-Chef Beckmann hört die
Wahlfreiheit der Eltern bei einer Stunde Fahrtzeit aber auf. Im Ministerium
hält man die Sorge, dass zum neuen Schuljahr jede dritte Förderschule vor dem
Aus steht, für unbegründet. Erstens müssten Schulen und Kommunen den
Anpassungsprozess erst 2015/16 umsetzen, außerdem seien Fusionen von
Förderschulen möglich. "Am Ende hängt alles vom Wunsch der Eltern
ab", meint Löhrmann.
Im Schulalltag soll das gemeinsame Lernen durch vom Bund
finanzierte Integrationshelfer erleichtert werden. Für Hilfen beim
Toilettengang oder beim Umgang mit Geräten sollen die Helfer behinderten
Kindern in der Klasse zur Seite stehen. Dabei ist klar, dass längst nicht alle
schwerbehinderten Schüler in eine Regelschule wechseln werden, weil die
Förderschulen für Lernschwache, Blinde, Gehörlose oder Schwerstbehinderte oft
besser auf deren Bedürfnisse zugeschnitten sind. Außerdem steht im
Inklusionsgesetz, dass zunächst die personellen und sächlichen Voraussetzungen
an einer Regelschule vorhanden sein müssen, bevor der Rechtsanspruch auf gemeinsames
Lernen gilt. Da bleibt noch viel Spielraum.
Die Vorsitzende des Elternvereins NRW, Regine Schwarzhoff,
fürchtet aber schon jetzt, dass behinderte und nicht behinderte Kinder durch
das gemeinsame Lernen Nachteile in der Betreuung und Förderung erleiden werden.
Auch CDU-Schulexpertin Petra Vogt sorgt sich, dass das funktionierende System
der Förderschulen teilweise zerschlagen werde, ohne zu wissen, ob die inklusive
Schule klappe. Viele Lehrer und Eltern seien stark verunsichert.
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